Rätselhafte Saison: Warum bleibt die DFB-Mannschaft hinter den Erwartungen zurück?
(ra). Für die 5-Jahreswertung der UEFA hat Deutschland in diesem Jahr mehr Punkte geholt als England, Frankreich oder Spanien. Würde die deutsche Nationalmannschaft gegen diese Nationen antreten, würden die Quoten der Sportwetten aber vermutlich aufzeigen, dass die Elf von Bundestrainer Julian Nagelsmann nicht die Favoritenrolle inne hat.
Im internationalen Geschäft läuft es für die deutschen Teams dagegen hervorragend. Nur Union Berlin ist in der Champions League ausgeschieden, doch alle anderen deutschen Vertreter sind noch im Rennen und können sich teilweise sogar berechtigte Hoffnungen auf einen Titel machen.
Wie ist diese Diskrepanz zu erklären, zumal die deutschen Top-Clubs auch viele Nationalspieler in ihren Reihen haben? Dieser Frage soll im Folgenden auf den Grund gegangen werden.
Auf der Suche nach dem Spielsystem der Nationalmannschaft
Spätestens seit Julian Nagelsmann den Job des Bundestrainers von Hansi Flick übernommen hat, wurde eine Menge experimentiert, um das Spielsystem zu finden, das den Erfolg bei der EM im kommenden Jahr bringen soll.
Trainer von Nationalmannschaften haben einerseits die Möglichkeit, sich vorab ein Spielsystem zu überlegen und dann zu schauen, welche Spieler dazu passen würden oder sie richten sich nach dem vorhandenen Spielermaterial aus und versuchen die Stärken bestmöglich einzusetzen.
Welchen Kurs Julian Nagelsmann verfolgt, kann nur spekulativ beantwortet werden. Fakt ist aber, dass der DFB-Coach schon einige taktische Aufstellungen ausprobiert hat und dabei auch nicht davor zurückgeschreckt hat, Spieler auf anderen Positionen einzusetzen, als sie es von ihren Clubs gewohnt sind.
Jüngstes Beispiel war die Nominierung von Kai Havertz als Linksverteidiger. Eigentlich ist Havertz eher ein zentraler Offensivspieler und das Experiment ging schief, obwohl Havertz sogar ein Tor gegen die Türkei beisteuern konnte. Nagelsmann bescheinigte Havertz dennoch eine gute Leistung auf der Position, aber es ist davon auszugehen, dass er dort nie wieder spielen wird.
Spieler erleben im DFB-Team eine andere Situation als im Verein
Jonathan Tah von Bayer Leverkusen gehört diese Saison zu den besten Innenverteidigern der Bundesliga. Doch in der Nationalmannschaft wurde er für seine Leistung gegen Österreich kritisiert. Wie kann es sein, dass Spieler in ihren Vereinen viel besser in Form zu sein scheinen?
Einerseits liegt das natürlich daran, dass ein Spiel bei der Nationalmannschaft eine Ausnahmesituation ist, während das Spielen für den eigenen Club die Regel darstellt. Woche für Woche steht Tah an der Seite von Edmond Tapsoba, Piero Hincapié und Odilon Kossounou. Seine Mitspieler im Verein zeigen jede Woche überragende Leistungen und Tah wird davon mitgerissen, anders ist sein Leistungsabfall im Nationaldress nicht erklärbar.
In der Nationalmannschaft sind seine Mitspieler teilweise ganz andere Spielertypen, es wird anders kommuniziert und es gibt nicht die gleichen taktischen Vorgaben. Jeder Profi muss sich also umstellen und Dinge anders machen, als im Club.
Ein breiter Kader allein bringt der deutschen Nationalmannschaft nicht viel
Ein breiter Kader gilt in der Regel als gute Voraussetzung für eine erfolgreiche Saison, aber in der Nationalmannschaft ist das ein wenig anders. Durch nur wenige Spiele im Jahr und kaum vorhandene Möglichkeiten, zusammen zu trainieren, kann der Trainer nicht für jede Position mehrere Spieler coachen und ihnen sein System erklären. Es kommt darauf an, genau die Top-Performer aus dem Ligabetrieb so zusammenzustellen, dass jede Position bestmöglich besetzt ist.
In anderen Ländern gibt es nur wenige Top-Stars, die in jedem Spiel gesetzt sind. In Deutschland gibt es jedoch eine viel größere Auswahl und nur wenige Spieler stechen dabei besonders heraus. Diese Qual der Wahl macht es für den Trainer schwierig, die besten Kombinationsmöglichkeiten zu ermitteln.
Auf europäischer Vereinsebene top – wie viel tragen die Nationalspieler dazu bei?
Die Vereine der Bundesliga, die international vertreten sind, performen in ihren Wettbewerben sehr gut, was wiederum zu großer Verwunderung sorgt, wenn deren Spieler dann in der Nationalmannschaft antreten und regelmäßig schlechte Leistungen abliefern.
In früheren Zeiten bestand die Nationalmannschaft und vor allem die Stammelf aus einem Block von Spielern des FC Bayern und einem Block von Borussia Dortmund. Die restlichen freien Plätze wurden aufgefüllt mit Spielern aus anderen Vereinen. Dies hat sich ebenfalls geändert und so bestand der ehemals große Block aus Bayern-Spielern bei den letzten Spielen, beispielsweise gegen die Türkei, nur noch aus Kimmich und Sané.
Die Nationalmannschaft setzt sich aus Spielern aus vielen Vereinen zusammen, sodass am Ende ein großes Potpourri aus Spielern der Bundesliga entsteht. Die folgende Infografik zeigt, wie viele Nationalspieler in den Reihen der europäisch vertretenen Teams stehen und welchen Anteil am Kader diese einnehmen.
Ein Grund für die unterschiedlichen Leistungen liegt im Mannschaftsgefüge bei den Vereinen, das sich deutlich von dem bei der Nationalmannschaft unterscheidet. Viele Spieler haben bei der Nationalmannschaft nicht die bedeutende und wichtige Rolle wie bei ihren Vereinen. Ein Beispiel hierfür ist Kimmich, der bei Bayern gesetzt ist und als Kopf der Mannschaft gilt.
In der Nationalmannschaft hingegen ist man sich unsicher, ob er überhaupt im defensiven Mittelfeld spielen sollte oder doch lieber als Außenverteidiger. Zudem wurde ihm die Kapitänsbinde entzogen und an Gündoğan weitergereicht, der als einziger Spieler von Manchester City kommt und somit kein Teil eines Blocks ist.
Medialer Rummel und Unruhe von außen
Ein weiterer Faktor, der die bescheidenen Leistungen der Nationalmannschaft erklären könnte, ist der mediale Wirbel und die ständigen Zwischenrufe von selbsternannten Experten, die vor und nach jedem Länderspiel ihre Meinung kundtun. Dadurch fehlt es den Spielern mit dem Adler auf der Brust an Selbstvertrauen, das sie bei den Vereinen immer und in großem Ausmaß genießen.
Auch der Trainer wird regelmäßig so stark kritisiert, dass nach einer einzigen Niederlage über die Position des wichtigsten Trainerjobs des Landes diskutiert wird. Der zuvor entlassene Hansi Flick galt lange Zeit als Ideallösung, nachdem er mit Bayern das Triple holte und sich auf Vereinsebene unsterblich machte.
In der Nationalmannschaft hatte er kaum eine Chance, sich zu beweisen und musste so frühzeitig seinen Posten räumen. Der jetzige Trainer steht ebenfalls in der Kritik, was darauf hindeuten könnte, dass es eben nicht am Coach, sondern an den Spielern selbst liegt.
Eine schnelle Lösung beim DFB in weiter Ferne?
Die DFB-Kicker liefern bei der Nationalmannschaft nicht dieselben Leistungen ab, wie sie es bei ihren Vereinen tun. Beispielhaft hierfür stehen Joshua Kimmich und Jonathan Tah, die beide zu den wichtigsten Spielern ihrer Teams gehören und beim DFB regelmäßig für Verwunderung sorgen.
Es gibt viele gute deutsche Spieler auf allen Positionen. An Stürmern zum Beispiel mangelt es in Deutschland nicht, denn Spieler wie Füllkrug, Ducksch, Undav, Glatzel und Mukhtar performen auf Vereinsebene, aber sie gehören nicht zur Weltklasse. Wenn man mit diesen Spielern etwas erreichen will, dann bedarf es eines Spielsystems, das schon von der Jugend an trainiert wird, und die Spieler passen sich daran an. Dann können auch Spieler, die nicht Weltklasse sind, ihre Aufgaben voll erfüllen.
Der andere Weg wäre, das System so anzupassen, dass die besten deutschen Spieler in der Startelf stehen, auch wenn das möglicherweise heißt, dass Kai Havertz als Linksverteidiger auftritt, weil im offensiven Mittelfeld Sané, Gündoğan, Wirtz und Gnabry das Maß aller Dinge sind. Im Sommer wird es wieder 80 Millionen Bundestrainer geben und alle Augen werden darauf gerichtet sein, was Julian Nagelsmann sich einfallen lässt.