Pflege vor dem Kollaps – wie ist die Situation vor Ort?
(rp) Bereits im Oktober 2018 hat die Geiselhöringer SPD eine Dialog-Veranstaltung mit dem Thema „Wie kann der Pflegenotstand gestoppt werden“ abgehalten. Nach fünf Jahren und angesichts sich weiter zuspitzender Notstände war es für die Ortsvorsitzende Barbara Kassberger an der Zeit, das Thema erneut aufzugreifen. Die Zuhörerschaft am Mittwoch im Saal der Taverne Korfu war gut gemischt: Vom Notfallsanitäter über die Pflegekräfte im Krankenhaus und der Seniorenpflege bis hin zu pflegenden Angehörigen und besorgten Noch-Nicht-Pflegebedürftigen war alles vertreten.
SPD-Ortsvorsitzender und Bezirkstagskandidat Michael Meister konnte neben dem Geschäftsführer des AWO-Seniorenheims vor Ort, Ralf Neiser auch den Verwaltungsleiter der Klinik Mallersdorf, Bernhard Fürst, und die Stationsleiterin Carmen Utz begrüßen. Als Überraschungsgast konnte die Geiselhöringer SPD die SPD-Landesvorsitzende Ronja Endres willkommen heißen. Endres war als Mitglied des Verhandlungsteams „Gesundheitspolitik“ bei den Koalitionsverhandlungen der Ampel-Koalition dabei und arbeitet auch jetzt noch in der Arbeitsgruppe direkt mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach zusammen. Auch privat kennt Endres sich aus: Wenn ihre Pflegemutter wieder einmal am Wochenende spontan im Krankenhaus arbeiten musste, weil es zu wenig Pflegepersonal gab, „dann ist das eben Thema daheim“.
„Seit unserer Veranstaltung 2018 zum Thema „Pflege“ ist die Welt nicht einfacher geworden: Erst kam Corona, dann der Ukraine-Krieg und nun belastet die Einrichtungen die Explosion der Energiekosten“, stieg Michael Meister, BRK-Referent für Tagespflege, Komplexeinrichtungen und Digitalisierung in der Pflege, in die Diskussion ein.
Krankenhausreform natürlich ein Thema
Überall fehlen Pflegekräfte, doch Personal-Untergrenzen gelte es zu wahren, denn Pflege sei mehr als nur „satt und sauber“, erklärte Krankenhaus-Stationsleiterin Carmen Utz. Unabdingbar sei die vollständige Refinanzierung der Pflegepersonalkosten für die unmittelbare Patientenversorgung, so die Forderungen an die Politik.
Ronja Endres nahm den Faden auf und erklärte zur geplanten Krankenhausreform: „Es geht bei unseren Plänen darum, die ‚Klinik vor der Haustür‘ zu erhalten“. Die sich gerade laut artikulierende Kritik, vor allem aus Bayern, sei reines Spektakel. Grundsätzlich ist man in der CSU gegen alles, was die Ampelregierung vorschlägt, auch wenn es nur eine Diskussionsgrundlage für ein neues Gesetz ist.
Bei der Notfallversorgung ist es 10 nach 12
„Es brennt bei der Notfallversorgung“, berichtete ein Notfallsanitäter aus dem Publikum. „Die gesetzlich vorgegebenen zwölf Minuten bis der Rettungswagen eintrifft, können gehalten werden. Der Notarzt kann schon mal 20 Minuten brauchen bis er Vorort ist. In der Zwischenzeit versucht der Notfallsanitäter sein Bestes“, so der Mann aus der Praxis. Doch was passiert dann? Eine Odyssee beginnt, bei der Frage wohin der Patient gebracht werden kann. Immer öfter melden sich Krankenhäuser vor Ort ab, weil sie aus Personalmangel keine Patienten mehr aufnehmen könnten. Wege bis zu 100 km, die dann mit dem Hubschrauber überwunden werden müssen, sind an der Tagesordnung.
Wenn es hart auf hart kommt, kann so was schon mal ein Todesurteil sein, so die einhellige Meinung. Ralf Neiser ergänzte diesen Punkt mit der Feststellung, dass Heimleitung und Angehörige oftmals gar nicht mehr wüssten, wohin die erkrankten Bewohner gebracht worden seien. Und Bernhard Fürst erklärte, die Krankenhäuser unterstützten die Notärzte, aber es müsse auch klar sein, dass der Arzt nach seinem Notarztdienst am kommenden Tag für die Klinik ausfällt.
Gute Personalsituation bedeutet gute Versorgung
„Die Privatisierung des Krankenhaussektors war ein Fehler“, auch darin waren sich die Anwesenden einig. Die daraus resultierende „Rosinenpickerei“ sollte allen eine Lehre sein. Mittlerweile gebe es mehr private Kliniken als gemeinwohlorientierte Krankenhäuser in kommunaler Hand, berichtete Ronja Endres. Ziel der Krankenhausreform müsse es ihrer Ansicht sein, Arbeitsplätze vor Ort zu erhalten. Dass dies mit klugen Ideen funktioniere, zeigten Facharztzentren (FAZ) und Medizinische Versorgungszentren (MVZ) – „was bei Ärzten klappt, kann auch ein Weg für Pflegekräfte sein“.
Ronja Endres kritisierte den eingeschlagenen bayerischen Weg: „Die angedachte Pflegebörse spiele gute Regionen (Starnberg) gegen weniger attraktive Regionen (zum Beispiel Niederbayern/Oberpfalz) gegeneinander aus. „Das kann nicht klappen!“ Hierin stimmten ihr die Pflegenden uneingeschränkt zu: Es gelinge ja schon nicht regional, dass bei Standortschließungen sich die freiwerdenden Pflegekräfte auf andere Häuser verteilten. „Pflegkräfte sind standorttreu, sie sind regional verbunden“, so eine Zuhörerin. Und Carmen Utz ergänzte: „In diesen Fällen gehen Arbeitskräfte der Pflege verloren. Die Leute suchen sich bessere Jobs vor Ort“.
Patienten bleiben unversorgt. Absagen führen zu Panik.
Ralf Neiser und Bernhard Fürst berichteten von endlosen unbefriedigenden Telefonaten auf beiden Seiten, wenn Krankenhauspatienten entlassen werden sollten und es keine Heimplätze gäbe. Hinzu kommen immer höher steigende Kosten für die Eigenbeteiligung der Heimbewohner, so ein Betroffener. Für die SPD ist die einzige Lösung für steigende Kosten eine Vollkaskopflegeversicherung. Das bedeute zwar etwas höhere Beiträge für alle, am besten aber mit einer Bürgerversicherung, in die dann auch alle einzahlen. Derzeit erarbeitet die SPD im Rahmen der Koalitionsvereinbarung ein Wahlmodell, in dem die Versicherten zwischen dem derzeitigen Angebot und einer Vollkaskopflegeversicherung wählen könnten. „Eigenverantwortung und vorausschauendes Handeln ist gefragt“, so Ronja Endres.
Viel wurde dann über den Pflegenotstand gesprochen. Die hoffnungsvoll eingeführte Generalisierung, die Vereinheitlichung der Pflegeausbildung, entpuppe sich als weiterer Fehler. Die Einarbeitungszeit der Absolventinnen und Absolventen der Pflegeschulen dauere viel zu lange und dazu fehle es an Kapazitäten. Das gleiche gelte für ausländische Fachkräfte (und Ärzte) – vor allem aus nicht EU-Länder. Hier komme es auf ein ausgewogenes Verhältnis an und auch das einheimische Personal müsse auf die Integration der ausländischen Pflegekräfte vorbereitet werden. Erfolgversprechend zeigte sich die Initiative des Krankenhauses Mallersdorf mit dem Projekt „Wiedereinstieg in die Pflege“, wo Pflegekräfte selbst nach 20 Jahren erfolgreich wieder in den Tagesbetrieb integriert werden konnten.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
„Die Pflegeschule in Mallersdorf, die ab Herbst 2023 wohl 30 Auszubildende aufnehmen kann, ist ein Hoffnungsschimmer“, so Michael Meister. Am Standort Mallersdorf wurde über viele Jahrzehnte erfolgreich eine Krankenpflegeschule betrieben, die leider 2004 eingestellt wurde. „Eine kurzsichtige Entscheidung, denn die erfolgreiche Ausbildung hätte niemals aufgegeben werden dürfen“. Heute lägen, so Bernhard Fürst, bereits 24 Anfragen von Heimen um Ausbildungsplätze vor. Was fehlt, seien die Bewerber*innen.
Was wird aus mir, wenn ich mal alt werde?
Die Zukunft sieht nicht gut aus: Eine Welle von Pflegebedürftigen ohne familiären Hintergrund rolle auf uns zu, waren sich die Pflegefachleute einig. Wird heute doch der überwiegende Teil der Pflegebedürftigen durch Ehepartner oder Kinder zu Hause gepflegt. Die Politik unterstützt dies mit einem finanziellen Ausgleich wie beim Elterngeld bis zu drei Jahren. Doch in der Folge des steigenden Single-Daseins ist niemand mehr da, der die familiäre Pflege übernehmen könnte. Ronja Endres berichtete hierzu, dass Gesundheitsminister Karl Lauterbach es sich zum Ziel gesetzt habe, speziell für diese Fragen die nötige Grundlagenforschung zu betreiben, um Lösungsansätze zu erarbeiten. Das gehe von alternativen neuen Wohnkonzepten bis hin zur viel belächelten Prävention. „Länger gesünder leben“, so ein weiterer Lösungsansatz seitens der SPD.
Statement der Pflegenden: Der schönste Beruf auf der Welt
Trotz aller aufgeführten Probleme in der Pflege, brachen die Pflegekräfte während der Diskussion eine Lanze für ihren Beruf: „Wir sind hochqualifizierte Fachkräfte und unser Beruf mach Spaß. Der Pflegeberuf ist abwechslungsreich und die Wertschätzung durch Patienten und Angehörige geben einem viel zurück. Wer kann schon sagen, dass er mit seiner Arbeit die Welt für andere Menschen jeden Tag etwas besser gemacht hat“.
„Wir brauchen keine Corona-Einmalzahlungen, kein Klatschen, keine Schokolade…. das ist nicht nachhaltig. Was wir brauchen sind einfach nur bessere Arbeitsbedingungen“, so ihr Appell an die Politik. Um dies zu erreichen, gäbe es vielfältige Möglichkeiten: Eine davon ist mehr Pflegepersonal. Dazu müssten die Stellenschlüssel verbessert und mehr ausgebildet werden, zeigten sich die Verantwortlichen überzeugt. Mehr Auszubildende und damit mehr Personal bekommt man durch Motivation, durch gezielte Vorteile gegenüber anderen Berufen, zum Beispiel durch günstigen Wohnraum. Dann klappt es auch mit einer guten Work-Life-Balance. Und warum nicht mit dem Bundesfreiwilligendienst (Bufdi) ein Überbrückungsjahr in der Pflege einlegen? Durch den ehemaligen Zivildienst haben viele junge Leute den Weg in den Pflegeberuf gefunden und sind bis heute zufrieden und glücklich.
„Außer Acht lassen darf man aber auch nicht“, ergänzte Michael Meister, „dass jede einzelne Einrichtung viel Spielraum in der Umstrukturierung seiner seit Jahren eingefahrenen Abläufe hat“. Hier ließe sich durch eine Anpassung an die heutigen Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen, Bewohner*innen und Patient*innen die tägliche Belastung im Pflegealltag erleichtern. So steiger man die Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen und gewinne neues Personal.
„Es gibt also genügend Ansätze, um den Pflegebruch aufzuwerten und ein positives Bild in der öffentlichen Wahrnehmung zu generieren. An den Verantwortlichen in der Pflege auf allen Ebenen liegt es nun, dies umzusetzen und den Beruf für junge Menschen – und erfahrene Wiedereinsteiger*innen attraktiv zu machen“, so das abschließende Statement der Pflegenden.