Aus dem Gerichtssaal

Freiheitsberaubung in einem Altenheim?

(jh) In Alten- und Pflegeheimen werden Demenzkranke immer wieder einmal mit Gurten oder Gittern daran gehindert, ihr Bett oder ihren Rollstuhl zu verlassen. Dabei handelt es sich eindeutig um einen Freiheitsentzug. Deshalb müssen Richter die Maßnahmen im Einzelfall prüfen und genehmigen. Liegt dieser richterliche Beschluss nicht vor, verstoßen Mitarbeiter der Einrichtung gegen § 239 des Strafgesetzbuches (StGB). Ein solcher Fall wurde am Dienstag am Amtsgericht Straubing verhandelt.


Der Fall liegt inzwischen fünf Jahre zurück. Ungewöhnlich lange. Dabei waren die Ermittlungen nach dem Tatvorwurf sehr schnell abgeschlossen. Es war ein Richter, der seinerzeit persönlich an Ort und Stelle die freiheitsberaubende Maßnahme festgestellt hatte. Einige Mitarbeiterinnen der Senioreneinrichtung hatten unmittelbar danach einen Strafbefehl erhalten. Am Dienstag saß nun die Pflegedienstleitung auf der Anklagebank. Sie wurde von der Staatsanwaltschaft beschuldigt, in sieben Fällen bei einer Bewohnerin das Anlegen eines Bauchgurtes bzw. dem Einsatz eines Bettgitters zugestimmt zu haben, obwohl kein richterlicher Beschluss vorgelegen habe.

Die Angeklagte berichtete sehr offen und ausgiebig über die Situation in der Einrichtung – auch darüber, dass sie zum Zeitraum, der in der Anklageschrift genannt wurde, keinerlei Weisungsbefugnis gegenüber eines im Hause integrierten Wohnbereichs gehabt habe. Zu diesem Zeitpunkt sei sie von der Heimleitung für diesen Bereich „kalt gestellt“ gewesen. In ihrer umfangreichen Einlassung wurde deutlich, dass ihre Befugnisse eingeschränkt gewesen waren. Ihr großzügiges Engagement für die Bewohner, Mitarbeiter – demzufolge auch für die Einrichtung – sei nicht länger gewünscht gewesen.

Die im Verfahren involvierte Heimbewohnerin – eine Seniorin mit extrem fortgeschrittener Demenz – war im Wohnbereich der Einrichtung untergebracht gewesen. „Ich hätte die Frau nie in unserer Einrichtung aufgenommen“, wiederholte die Angeklagte mehrmals. Die Seniorin hätte in einen beschützenden Bereich einer Einrichtung gehört. Diese wurde jedoch von der aktuellen Einrichtung nicht angeboten. Die Heimleitung habe diesen Einwand auch nicht akzeptiert.

Demzufolge war die besagte Heimbewohnerin nahezu täglich Thema bei der morgendlichen Besprechung der Führungskräfte: Die Seniorin habe mehrmals versucht, sich selbst oder andere zu verletzten. Detailliert schilderte die Angeklagte entsprechende Beispiele. Sie selbst hatte ja mit dem „Fall“ nichts zu tun, kannte die Situation aber von den Besprechungen. Aufgrund des Verhaltens der Heimbewohnerin wechselte diese deshalb immer wieder von der Senioreneinrichtung ins Bezirkskrankenhaus Mainkofen und zurück.

Im Februar 2012 war die Seniorin erneut aus Mainkofen zurückgekommen. Im Arztbericht war darauf hingewiesen worden, dass die Seniorin nachts viertelstündlich beobachtet werden sollte. In der Einrichtung sind zwei „Nachtschwestern“ für etwa 100 Bewohner zuständig.

Die Situation mit der Bewohnerin hatte sich so stark zugespitzt, dass beim Amtsgericht entsprechende Maßnahmen beantragt wurden. Wie es die Angeklagte schilderte, sei sie von der Heimleitung ausschließlich dazu aufgefordert worden, die notwendigen Unterlagen zu organisieren. Den Antrag selbst habe die Heimleitung in Verbindung mit dem zuständigen Betreuer – dem Sohn der Bewohnerin – gestellt.

Wenngleich die Pflegedienstleiterin mit der Bewohnerin der Wohneinrichtung nichts zu tun gehabt hatte, hätte sie die Unterlagen bei den Ärzten beigeholt. Ab diesem Zeitpunkt wird die Situation etwas undurchsichtig: An einem in der Anklageschrift genannten Wochenende habe man in der Einrichtung vergeblich auf den Beschluss der zuständigen Richterin am Amtsgericht gewartet. Nach Wissen der Angeklagten hätten alle angeforderten Unterlagen – wenn auch zeitlich sehr knapp bemessen – dem Gericht vorgelegen.

Was an diesem Wochenende in der Einrichtung geschah, kennt die Pflegedienstleiterin nur vom Hörensagen. Sie selbst hatte weisungsgebunden frei. Sie hatte auch keine Anrufe aus der Einrichtung erhalten. Die zuständige Hausärztin war zu diesem Zeitpunkt offensichtlich der Auffassung, dass zum Schutz der Bewohnerin, ihrer Mitbewohner und dem Personal gegenüber bei „Gefahr in Verzug“ Maßnahmen getroffen werden sollten. Einen Eintrag in der bewohnerspezifischen Dokumentation habe es gegeben.

[su_box title=“Hintergrund“ box_color=“#cdc8c8″ radius=“5″]Demente Menschen zeigen oft einen übergroßen Bewegungsdrang, verlassen die Einrichtungen und irren draußen herum. Sie dürfen aber nicht ohne gerichtliche Genehmigung mit Bettgittern oder Gurten in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Die Zustimmung des Betreuers reiche nicht aus, entschied der Bundesgerichtshof. Das Anbringen von Bettgittern sowie die Fixierung im Stuhl mit einem Beckengurt seien freiheitsentziehende Maßnahmen, die eine gerichtliche Prüfung erfordern.[/su_box]

Am Montag habe dann der Einrichtung immer noch kein Beschluss vorlegen. Erst am Dienstag sei dann ein weiterer Richter in die Einrichtung erschienen. Dieser entdeckte im Fall der betreffenden Senioren, dass „freiheitsberaubende Maßnahmen“ stattgefunden hatten. Warum der notwendige Beschluss nicht ausgestellt wurde, kam bei dem Prozess nicht mehr zur Sprache, denn bevor das Gericht in die Beweisaufnahme eintrat und Zeugen zu dem Vorgang hörte, unterbrach der Vorsitzende die Verhandlung und holte Staatsanwaltschaft sowie Verteidigung zu einem Rechtsgespräch zu sich.

Im allseitigen Einvernehmen stellte daraufhin der Vorsitzende Richter das Verfahren gegen die Pflegedienstleiterin wegen geringer Schuld ein. Seine Begründung: „Sie arbeiten schon sehr lange in diesem Bereich. Ich habe den Einruck, sie hängen mit viel Herzblut an ihrem Beruf.“  Nachdem die Angeklagte schon fünf Jahre auf ihren Prozess gewartet habe, würden die Kosten des Prozesses die Staatskasse übernehmen.